Ich habe Geisteswissenschaften studiert. Genauer gesagt Germanistik und Romanistik (mit Schwerpunkt Spanisch). Wer diesen Blog schon länger verfolgt, hat auch meinen beruflichen Werdegang mitbekommen, der nicht ganz einfach war. Erst seit einigen Monaten bin ich auf einem Weg, der sich gut und richtig und so anfühlt, als sollte ich in diese Richtung weiterlaufen. Gefunden und bekommen habe ich meinen jetzigen Job durch drei Dinge: 1. eine freche Initiativbewerbung, 2. das Glück, dass eine Stelle frei, aber nicht ausgeschrieben war und 3. ein erfolgreiches Probearbeiten. Denn einen Geisteswissenschaftler einzustellen, ist für viele Unternehmen offenbar ein schwieriger Schritt, sodass sie sich absichern und den Bewerber erst einmal zu einem Probearbeiten einladen. Für mich war das kein Problem und völlig in Ordnung, denn – ohne jetzt arrogant klingen zu wollen – ich weiß, was ich kann und bin gerne bereit, das unter Beweis zu stellen. Andererseits schaue ich mir auch mit Interesse an, auf was ich mich einlasse und ein Probearbeiten bietet die aufschlussreiche Möglichkeit, ein Unternehmen „von innen“ zu erleben.

Dennoch kann ich mich der Ungerechtigkeit einer solchen Haltung Geisteswissenschaftlern gegenüber nicht ganz erwehren. Man stelle sich das Gesicht eines Ingenieurs oder Anwaltes vor, der erst einmal zwei Tage kostenfrei zur Probe arbeiten soll – und zwar nicht, um zu sehen, ob er oder sie ins Team und das Arbeitsumfeld passt, sondern um sich von seinem fachlichen Können zu überzeugen. Sie würden wahrscheinlich laut lachend den Raum verlassen und eines ihrer anderen zahllosen Jobangebote annehmen. Woher aber stammen nun diese Zweifel Geisteswissenschaftlern gegenüber?

Der geisteswissenschaftliche Absolvent, das unbekannte Wesen

Für mich liegt der Schlüssel darin, dass Unternehmer und Personalverantwortliche, die keinen geisteswissenschaftlichen Bildungsweg durchlebt haben, sich schlecht vorstellen können, was ein solches Studium beinhaltet und welche Qualifikationen (hard skills und soft skills) ein Bewerber mit einem Abschluss in Anglistik, Philosophie oder Ethnologie mitbringt. Wenn ich als studierte Germanistin zum Beispiel zugebe, die Rechtschreibregeln nicht 1:1 herunterbeten zu können und hin und wieder bei einigen Wörtern zu zweifeln, ernte ich nicht selten „Aber was hast du dann im Studium überhaupt gelernt“-Blicke. Ebenso wenn ich antworte, nicht jedes Werk von Goethe oder Kafka oder Mann gelesen zu haben. Die Gesellschaft denkt ganz offenbar, philologische Studiengänge wären Fortsetzungen des Deutsch- oder Fremdsprachenunterrichts aus der Schule.

Und man kann es ihnen noch nicht einmal verübeln, denn woher sollen sie wissen, dass dem nicht so ist? Schließlich entschließt sich ein nicht kleiner Teil der Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer für die Lehrerlaufbahn. Der Rest macht sich auf ins echte Leben (sorry lieber Lehrer, dieser kleine Seitenhieb aufs Beamtentum musste sein…), arbeitet als Angestellter in einer Firma, macht sich selbstständig oder einen Namen als Freiberufler. Der Weg dahin kann steinig sein, denn gerade auf der Suche nach einem Job als Angestellter gilt es, den Chef oder Personalverantwortlichen vom eigenen Können zu überzeugen – und zwar so sehr, dass er oder sie den Bewerber TROTZ des vermeintlichen Mankos „geisteswissenschaftlicher Abschluss“ zum Gespräch einlädt. Jeder weiß schließlich, dass diese Hürde die größte ist: Für einen Job, den vielleicht auch jemand mit einem nicht-geisteswissenschaftlichen Hintergrund machen könnte, in die engere Wahl zu kommen. Ich spreche hier vor allem von Stellen in den Bereichen Projektmanagement/Kulturmanagement/Medien, aber natürlich auch solchen in noch weiter vom Studienfach entfernten Tätigkeitsfeldern wie Verwaltung, Personalwesen, o. ä.. Einem BWLer werden Aufgaben wie Kundenkommunikation oder Prozessoptimierung ohne Weiteres zugetraut, obwohl sie ebensowenig mit Inhalten aus seinem Studium zu tun haben wie mit denen eines Geisteswissenschaftlers. Der BWLer gilt gesellschaftlich allerdings als Allrounder, der diese Dinge schnell lernen kann. Dass der durchschnittliche Geisteswissenschaftler dazu genauso, in manchem Fall vielleicht sogar besser in der Lage wäre, steht leider oft nicht zur Diskussion. Schade, denn ich bin der festen Überzeugung, dass Geisteswissenschaftler in vielen Berufszweigen hervorragend zurechtkommen und eine Bereicherung für Firmen sind. Warum? Das habe ich einmal zusammengefasst:

Sechs Gründe, warum Geisteswissenschaftler eine Bereicherung für jedes Unternehmen sind

1. Ihr Fachwissen

Bevor es um die soft skills gehen soll, die Geisteswissenschaftlern völlig zurecht nachgesagt werden, soll hier nicht vergessen werden, dass auch in einem philologischen oder sozialwissenschaftlichen Studium jede Menge Faktenwissen auf dem Lehrplan steht. Anderes als in klassischen Auswendiglern-Studiengängen, aber dennoch solches, das sich „überprüfen“ lässt. Wie war das genau mit dem Dreißigjährigen Krieg oder der Kubakrise? Frag den Historiker. Welche lexikalischen Unterschiede gibt es zwischen britischem und amerikanischem Englisch? Die Anglistin kann helfen. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Elternhaus und Bildungsabschluss? Der Soziologe weiß es. Warum können Portugiesen Spanier leichter verstehen als Spanier Portugiesen? Die Romanistin erklärt es. Auf den ersten Blick mögen solche Fragestellungen nach Spezialwissen klingen, das im Arbeitsalltag eines (mittelständischen) Unternehmens wenig gefragt ist. Aber für Firmen, die Geschäftsbeziehungen in verschiedene englischsprachige Länder unterhalten, mag oben genannte Frage über kurz oder lang relevant werden. Und so manchem Unternehmen war beim Start von Handelsbeziehungen nach Südamerika vielleicht gar nicht klar, dass der argentinische und der brasilianische Partner sich nicht problemlos verstehen können. Diese Beispiele zeigen, wie hilfreich solches Faktenwissen sein kann, um vor allem im Bereich Interkulturelle Kompetenz peinliche Fauxpas zu vermeiden.

2. Ihre Recherchekompetenz

Zig Hausarbeiten haben Spuren hinterlassen: Geisteswissenschaftler sind Meister darin, zu einem Thema umfassend zu recherchieren. Schon im Studium wurde ihnen eingetrichtert, nicht direkt dem ersten Sucherergebnis bei Google zu vertrauen, sondern jede gefundene Information sorgfältig inklusive ihrer Quelle zu archivieren und kritisch zu hinterfragen, ob es sich um eine vertrauensvolle Ressource handelt und die Information korrekt ist. Dafür nutzen sie sowohl digitale als auch analoge Quellen, denn Geisteswissenschaftler haben weder Angst vor dem Internet noch vor Bibliotheken. Auch mit Programmen zur Quellenverwaltung wie Citavi kommen sie hervorragend zurecht, sodass sie bereits nach kurzer Zeit eine umfassende digitale Bibliographie zum Recherchethema erstellt haben werden, egal ob es um romantische Lyrik, SEO-Optimierung oder Fragen zum europäischen Zoll geht.

3. Ihre Fähigkeit, sich selbstständig Wissen anzueignen

Die Seminarthemen im geisteswissenschaftlichen Studium sind breit gefächert. Ich habe mich im Germanistikstudium genauso mit Michel Foucault beschäftigt wie mit plattdeutschen Varietäten in Schleswig-Holstein und mittelhochdeutschen Minnegesängen. Die Referats- und Hausarbeitsthemen waren oft noch wesentlich spezieller, sodass es vonnöten war, sich möglichst schnell möglichst intensiv selbstständig (!) in ein Themenfeld einzuarbeiten. Gerade wenn das Thema selbstgewählt war, hat mir das immer viel Spaß gemacht und ich profitiere noch heute davon, dass ich im Studium viel Literatur sichten, bewerten und durcharbeiten musste. Man mag es selektives Lesen oder Querlesen nennen, aber normalerweise kann ich bereits nach wenigen Sekunden entscheiden, ob ein Text für meine aktuelle Aufgabe relevant ist. Und ist er es, extrahiere ich in kurzer Zeit die wichtigen Infos, um sie meiner Wissenssammlung über ebenjenes Thema hinzuzufügen. Gerade in Berufen, die Textproduktionsaufgaben umfassen, ist diese Kompetenz enorm wichtig, um sich nicht zu verzetteln und sich in angemessener Zeit ein Thema selbstständig zu erschließen.

Geist is geil 2
Geisteswissenschaftler @work (Symbolbild)

4. Ihr kritischer Blick

Zu Grund Nummer 2 und 3 gesellt sich noch ein weiterer aus dem Bereich „Recherche und Information“, der Geisteswissenschaftler zu nützlichen, aber anfangs vielleicht auch, nun ja, unorthodoxen Arbeitnehmern macht. Ich spreche hier von ihrer Kompetenz, Fragen zu stellen bzw. Informationen, Aufgaben und Abläufe zu hinterfragen. Im Studium darauf getrimmt, Quellen nicht blauäugig zu vertrauen und den eigenen Verstand zu benutzen, eigene Fragestellungen zu entwickeln, eigene Rückschlüsse zu ziehen, werden sich Geisteswissenschaftler schwer tun, Aufgaben einfach abzuarbeiten, wenn sich deren Sinnhaftigkeit nicht erschließt. Sie tun dies nicht, um Kollegen oder Vorgesetzte zu nerven, sondern weil es ihnen in Fleisch und Blut übergegangen ist, nichts als unumstößlich hinzunehmen. Das kann gerade für Unternehmen, die recht festgefahrene Prozessstrukturen aufweisen, anstrengend, aber auch äußerst gewinnbringend sein. Veränderung beginnt ja stets im Kleinen und wenn es zunächst nur minimale Verschiebungen bei Zuständigkeiten o. ä. sind. Dabei haben Geisteswissenschaftler garantiert nicht immer die perfekte Lösung parat, sind aber im Normalfall gerne bereit, Neues auszuprobieren – und sich auch eines Besseren belehren zu lassen, sollte der von ihnen vorgeschlagene Weg nicht funktionieren.

5. Ihre Liebe zum geschriebenen Wort

Okay, ich gebe zu: Diese Liebe trifft man besonders bei Philologen an. Die meisten von ihnen lesen gerne, haben immer gerne gelesen und im Laufe des Studiums jede Menge Erfahrungen mit der Erstellung formeller Texte gemacht. Den einen liegt der sachliche Schreibstil mehr, den anderen weniger, aber alle haben sich daran versucht. Und diese jahrelange Beschäftigung mit dem Schreiben, dem eigenen Schreibstil und der Problematik, komplexe Zusammenhänge möglichst verständlich, gut lesbar sowie sprachlich und stilistisch korrekt zu Papier zu bringen, hinterlässt ihre Spuren. Warum also so jemanden nicht in der Unternehmenskommunikation einsetzen? Wer Derridas‘ Dekonstruktion erklären kann, kann auch einem Kunden die Vor- und Nachteile verschiedener Rohre, IT-Programme oder Automodelle erörtern.

6. Ihre interkulturelle Kompetenz

Auch hier sind die Philologen natürlich die Vorreiter, aber auch Ethnologen, Politikwissenschaftler, Soziologen oder Pädagogen beschäftigen sich im Studium (mal mehr, mal weniger) mit den Themen Kultur und Gesellschaft. Zudem sammelt ein Großteil der Geisteswissenschaftler während des Studiums Auslandserfahrung: Denke ich an mein Spanischstudium zurück, fällt mir spontan niemand ein, der nicht mindestens ein halbes Jahr im spanischsprachigen Ausland verbracht hat. Neben den Sprachkenntnissen ist so ein Aufenthalt vor allem auch eine wichtige Lektion in Sachen Toleranz und sorgt dafür, die eigene Kultur zu reflektieren. Einen echten Einblick in ein Land erhält man eben nur, wenn man einmal dort gelebt hat. Ich würde zum Beispiel niemals versuchen, in einer spanischen Firma jemanden zwischen 14 und 17 Uhr zu erreichen und mich dann den ganzen Tag darüber ärgern, dass niemand ans Telefon geht. Nur weil wir unser Mittagessen in einer halben Stunde hinunterschlingen und um halb fünf gestresst aus dem Büro stürmen, muss der Rest der Welt das ja nicht genauso machen.

Geist ist geil – aber das muss auch kommuniziert werden!

Geisteswissenschaftler haben der Arbeitswelt viel zu bieten. Ihr größtes Problem ist und bleibt jedoch, dass vielen Unternehmen das (schuldlos) nicht klar ist. Darum gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit für uns Geisteswissenschaftler, das zu ändern: Wir müssen uns sichtbar machen und Gehör verschaffen! In der Arbeitswelt wartet niemand auf uns, die speziell für uns ausgeschriebenen Stellen sind rar. Also heißt es: Nach Alternativen suchen, sich initiativ bewerben und – am allerwichtigsten! – sich nicht selbst kleinmachen. Jeder Personalverantwortliche erkennt eine unsichere Bewerbung auf den ersten Blick. Ein bisschen Größenwahn schadet im Bewerbungszirkus darum nicht. Die Traumfirma sucht eigentlich einen BWLer fürs Marketing? Mache dir Gedanken, warum sie lieber dich einstellen sollten und schreibe genau das in deine Bewerbung! Im Projektmanagement wird ein Wirtschaftsinformatiker gesucht? Lege dar, warum du als Medienwissenschaftler viel besser geeignet bist! Die NGO braucht einen Politikwissenschaftler? Sammle Argumente, warum sie mit dir als Philosophen oder Pädagogen besser bedient wäre!

Auch mich hat diese Art, Bewerbungen zu schreiben, einiges an Überwindung gekostet. Vielleicht ist das ein Frauenproblem: Wir machen uns gerne klein, zweifeln an uns und finden es fast unverschämt, uns auf Stellen zu bewerben, auf deren Profil wir vielleicht nur zu 50 Prozent passen. Gerade als Geisteswissenschaftlerinnen können wir uns diese Form der Schüchternheit aber überhaupt nicht leisten. Denn mal im Ernst: Kann sich nicht jedes Unternehmen glücklich schätzen, eine ungewöhnliche und klug durchdachte Bewerbung zu erhalten? Standard kann ja jeder.

Seid Ihr Soziologe, Slawistin, Vergleichender Literaturwissenschaftler oder anderweitig geisteswissenschaftlich geprägt? Welche Erfahrungen habt Ihr in der Arbeitswelt gemacht? Und wenn Ihr aus einem ganz anderen Berufszweig kommt: Gibt es in Eurem Unternehmen Geisteswissenschaftler? Ich bin sehr gespannt auf Eure Erfahrungen und Geschichten zu diesem Thema!

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