Neulich widmete ich mich dem merkwürdigen Gebaren meiner Kommilitonen in der Bibliothek, die sich kurz mit den Schlagworten Selbstbetrug, Pause und Gejammere zusammenfassen lassen. Abgesehen davon habe ich noch andere Erkenntnisse gewonnen. Diese wiederum lassen sich mit morgendliche Stille, Literaturwissenschaft vs. Linguistik und das andere Geschlecht verschlagworten. Offensichtlich füllt meine Masterarbeit mich irgendwie nicht aus.

Früh aufstehen finde ich so semi-klasse. Alles vor sieben Uhr ist hart, alles zwischen sieben und acht ist durchaus machbar und alles nach acht ist ausschlafen. Das ist mein persönliches Aufstehranking. Die Fachbibliothek, mein neues Zuhause, öffnet ihre Tore in der vorlesungsfreien Zeit um 9 Uhr. 9 Uhr ist ein akzeptabler Zeitpunkt, um mit der Arbeit zu beginnen, finde ich. Da bin ich aber scheinbar die einzige, denn in der Bibliothek herrscht um diese Uhrzeit gähnende Leere und eine wunderbare und sehr arbeitsanregende morgendliche Stille.

Ich schätze die Vormittage in der Bibliothek inzwischen sehr; sie sind entspannt und unheimlich produktiv. Es ist ruhig, keiner quatscht hinter mir oder prokrastiniert in meinem Blickfeld bei Facebook, niemand wühlt rumpelnd in Regalen. Und nach meiner Kaffeepause so gegen 10 Uhr laufe ich so richtig zu Höchstform auf. Manchmal habe ich mein geplantes Tagespensum dann – danke, liebes Koffein! – schon vor dem Mittagessen erledigt. Nach dem Mittag hingegen ist nicht nur die Motivation am Tiefpunkt, nein, es ist auch mit der Einsamkeit vorbei. Weitere Germanisten sind erwacht und haben – sehr zu meinem Leidwesen – den Weg in die Heiligtümer gefunden, wo sie nun schreiben, lesen, wühlen, quatschen, stöhnen, jammern, surfen und Grimassen schneiden. Vielleicht fällt mir das auch nur so sehr auf, weil ich inzwischen in einem anderen Raum als zu Beginn sitze und in diesem deutlich mehr Betrieb herrscht. Und das kam so:

Nachdem ich die ersten Tage meiner Schreibselei in der Bibliothek in einem Raum mit sprachwissenschaftlicher Literatur zugebracht habe (Ich schreibe ja eine sprachwissenschaftliche Arbeit, auch wenn ich mich momentan eher im sozialwissenschaftlichen Bereich tummele…), in dem es ganz fürchterlich kalt war, bin ich vorletzte Woche „umgezogen“ zu den Literaturwissenschaftlern. Alles strikt getrennt bei uns – man studiert diese beiden Bereiche sogar an unterschiedlichen Instituten zwischen denen die Kommunikation – wie heißt das Wort? Ach ja: inexistent – ist. Dort ist es mindestens fünf Grad wärmer, warum auch immer. Ich hege ja schon länger den Verdacht, dass die Litwis sich den Linguisten irgendwie überlegen fühlen. Als ob es cooler und wichtiger wäre, 20 Werke von Kafka oder Schnitzler oder Kracht gelesen zu haben als den Unterschied zwischen einem Phon, einem Phonem und einem Morphem erklären zu können. Ist es nicht.

Diese „Rangfolge der Coolness“ spiegelt sich gefühlt in der Raumtemperatur der Bibliothek wieder. Während es bei den Litwis muckelig warm ist und der Raum daher eine heimelige, arbeitsbejahende Atmosphäre ausstrahlt, frieren die Linguisten sich den Allerwertesten ab. Hatte ich erwähnt, dass wir hier an der Küste von dem schönen Frühlingswetter in letzter Zeit wirklich nada mitbekommen haben? Wenn wir die zehn-Grad-Marke knacken, schreien alle schon laut Hurra und kaufen sich ein Eis. Diese Art von Wetter haben wir hier. Diese Woche ist es auch schon wieder windig, eigentlich ist es hier immer windig. Irgendwann ziehe ich doch nochmal nach Süddeutschland, nur des Wetters wegen. Wie dem auch sei, ich habe mir also nun einen Platz bei den Litwis gesucht, Tisch 17, an der Heizung. Sehe ich gar nicht ein, dass ich beim Arbeiten frieren soll. Nun gucke ich den ganzen Tag auf ein Regal mit Sekundärliteratur über Tragödien. Ein Schelm, wer das als schlechtes Omen sieht.

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Gegenüber von mit sitzt immer ein Typ mit Brille und Mütze, den ich bislang nur vom Sehen kannte und der offensichtlich auch an seiner Abschlussarbeit schreibt. Er kommt immer später als ich, ich gehe dafür früher. Inzwischen begrüßen und verabschieden wir uns stets mit einem Lächeln voneinander, wir sind ja Leidensgenossen. Wenn er mein Typ wäre, könnte ich ihn jeden Tag gnadenlos stundenlang anflirten. Ist er aber leider so gar nicht, also lasse ich es. Vielleicht gesellt sich ja noch jemand Interessantes zu uns in den nächsten Wochen (Aber bitte nicht der mit dem unfassbar hässlich gemusterten lila Hemd von heute Morgen. Danke.). Eher unwahrscheinlich, dass bei den Germanisten jemand Interessantes auftaucht, aber man weiß ja nie.

Exemplare des anderen Geschlechts, die mich interessieren (heißt im Klartext: älter als ich, größer als ich, kein Sportstudent – (fast) alles andere ist verhandelbar), sind in der Germanistik rar gesät. Noch schlimmer ist es übrigens in der Romanistik, meinem ungeliebten ganz tollen anderen Studienfach. Von den sowieso nur ca. 10 % männlichen Studenten (Romanistik ist ein hoffnungslos verweiblichtes Fach, wobei natürlich alle Professoren- und wichtigen Mitarbeiterstellen selbstverständlich trotzdem mit Männern besetzt werden…) ist ein nicht zu verachtender Anteil schwul. Kein Scherz.

Das Flirtpotenzial in der Bibliothek habe ich dennoch offensichtlich unterschätzt die letzten Jahre. Aber ich bin ja auch erst in Kapitel drei (von sieben) meiner Arbeit, werde also noch einige Zeit in der Bibliothek verbringen. Und der Frühling hat ja auch gerade erst angefangen…